Gedenken an das Massaker von Odessa vor zehn Jahren

Liane Kilinc

Kaum zu fassen, dass es schon zehn Jahre her ist. Und noch immer ist das Massaker von Odessa eine offene Wunde. Ich habe kurz danach das erste Mal davon gehört; nicht aus deutschen Medien. Die Tagesschau hatte damals, am 2. Mai 2014, nur eine kurze Meldung dazu übrig: Pro-​Russen und Pro-​Europäer seien aneinander geraten und dabei sei es zu einem Brand in dem Gewerkschaftshaus gekommen…

Es gab und gibt viele Videos und Bilder im Internet, die zeigen, was an diesem Tag in Odessa wirklich geschehen ist. Ich habe sie damals gesehen und rate jedem, der die Ereignisse nicht kennt, sie sich ebenfalls anzusehen; denn nur dann begreift man, welch ein Zivilisationsbruch dort stattgefunden hat und warum diese Wunde so lange weiter offen sein wird, bis die Täter endlich bestraft sind.

Eines der Opfer, dessen Geschichte mir besonders nahe geht, ist Vadim Papura. Es gibt ein weit verbreitetes Foto, das ihn auf einer Demonstration zeigt. Er trägt die Fahne des Komsomol; es dürfte noch eine sowjetische Fahne sein, sie ist bestickt, nicht gedruckt. Ein hübscher junger Mann, aber ohne Eitelkeit; einer von der Sorte, die nicht einmal bemerkt, dass die halbe Klasse ihn anhimmelt. Man sieht, wie stolz er ist, diese Fahne zu tragen, an seiner aufrechten Haltung und dem Anflug von Lächeln auf seinen Lippen.

Vadim war erst 17 an jenem zweiten Mai 2014. Er eilte zu dem Protestcamp auf dem Kulikowo-​Platz, als er hörte, die Maidan-​Anhänger werden dorthin marschieren. Der Obduktionsbericht spricht von Brandwunden zweiten und dritten Grades auf einem Viertel der Körperoberfläche. Er spricht auch von »Verletzungen die durch wiederholte Schläge mit einem stumpfen Gegenstand aus verschiedenen Winkeln auf den Kopf« verursacht wurden. Durch diese Schläge war sein Schädel an mehreren Stellen gebrochen.

Vadim Papura war einer von mehreren, die auf der Rückseite des Gewerkschaftshauses aus dem Fenster sprangen, um dem Feuer zu entgehen. Dort warteten allerdings die bei uns »Pro-​Europäer« genannten Faschisten, um die Gesprungenen mit Eisenstangen zu erschlagen. Auf einem der vielen Videos von diesem Tag kann man das sehen.

Vadims Mutter erzählt in einem Interview von jenem Tag. Um sechs Uhr abends habe ihr Sohn sie das letzte Mal angerufen, er sei im Gewerkschaftshaus, und sie solle nicht kommen und irgendetwas heldenhaftes versuchen. Um halb acht kamen seine Eltern dort an. »Da waren junge Mädchen, sechzehnjährige«, berichtet die Mutter, »ich konnte nicht begreifen, was sie riefen… auf dem Dach versteckten sich Menschen und sie wedelten mit ihren Taschenlampen und riefen ›los, springt!‹ «

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