Genauerer Blick statt Empörungskultur: Der Besuch des Taliban-Vertreters in Deutschland

Unter dem Titel ‚Besuch aus der Islamisten-Diktatur - Taliban-Führer tritt in Köln auf!‘, erregte die Bildzeitung am 18.11.2023 mit einem vermeintlichen Skandal die Gemüter und stellte die Frage: ‚Wie kam er unbemerkt nach Deutschland?‘ (19.11.2023, Beitrag von Anna Lyse (Pseudonym))

Schnell gingen die Wogen hoch, doch in einem Rechtsstaat ist zuerst einmal zu fragen, warum er nicht einreisen dürfen sollte. Einem Bericht des Standards zufolge hat Abdul Bari Omar zuvor an einer Konferenz der WHO in den Niederlanden teilgenommen.
Es ist also davon auszugehen, dass er über ein gültiges Schengenvisum verfügt, welches in der Regel auch zum Besuch anderer Mitgliedsstaaten berechtigt. Möglich wäre auch eine Doppel-Staatsbürgerschaft (EU-Land). Abdel Bari Omar findet sich auch nicht auf der Liste der sanktionierten Persönlichkeiten in der EU. Die Skandalmeldung ‚Wie konnte er unbemerkt nach Deutschland kommen?‘ ist also rechtlich gesehen keine – denn nach wie vor gilt: Menschen dürfen alles tun, was nicht explizit verboten ist.

Dem Standard-Bericht zufolge verwies das Düsseldorfer Innenministerium, als es mit dem Fall konfrontiert wurde, auf eine Bewertung des Generalbundesanwalts. Nach dieser handle es sich bei den Taliban mit deren Machtübernahme in Afghanistan und der Bildung einer Regierung im September 2021 ‚ab diesem Zeitpunkt‘ nicht mehr um eine kriminelle oder terroristische Vereinigung.

Über diese Wertung kann man trefflich streiten, sie soll aber nicht Gegenstand dieses Kommentars sein.

Vielmehr soll hier der Frage nachgegangen werden, was diese Meldung und die Hochstilisierung zu einem Skandal für einen Zweck verfolgt, und ob die Verbreitung tatsächlich denjenigen dient, die sich nun besonders aufregen. Zudem lohnt sich ein Blick auf die aktuelle Lage in Afghanistan.

Die Meldung bedient verschiedene Narrative:

1. Ein sicherheitspolitischer Skandal: Das dient allgemein der Schwächung der staatlichen Systeme und erzeugt den Eindruck, dass Deutschland nicht einmal die Einreise bekannter (vermeintlicher) Terroristen verhindern könne.
2. Verfestigung eines Feindbilds: Alle Taliban sind Terroristen.
3. Die Dämonisierung einer derzeit nicht anerkannten Staatsführung: Damit muss man sich nicht damit auseinandersetzen, wie die Lage in Afghanistan derzeit wirklich aussieht. Die Aussagen Abdul Bari Omars werden sofort als islamistische Propaganda abgetan.
4. Legitimierung von eingeschränkter Redefreiheit: Wer als Terrorist geframt wird, hat kein Rederecht mehr. Unabhängig davon, ob das, was er in seiner Rede sagt, in irgendeiner Weise radikal oder aufrührerisch ist.

Die Bild-Zeitung spart in ihrem Beitrag nicht mit Dämonisierungsbegriffen wie Steinzeit-Islamisten und menschenverachtendes Taliban-Regime. Zweifellos haben die Taliban in der Vergangenheit viele Menschenrechtsverstöße begangen und ihr Umgang mit Frauenrechten entspricht keinesfalls westlichen Werten. Doch muss man hier bedenken, dass andere Kulturen andere Wertvorstellungen mitbringen. Beispielsweise ist es für die hierher geflüchteten Afghanen ebenfalls schockierend zu sehen, wie wir mit unseren älteren Menschen umgehen. Die Großeltern ins Alters- oder Pflegeheim abzuschieben, wäre in Afghanistan undenkbar, und wird als unmenschlich und respektlos wahrgenommen.
Twitter Analytics: Measuring and Optimizing Your Social Media Impact